Neulich spielte ich die erste Runde Schach seit vielleicht 15 Jahren. Vielleicht hab ich auch 5 Partien gespielt in den letzten 15 Jahren, egal, es kommt in die richtige Richtung.
Was ich dabei wieder einmal merkte ist, dass meine Begeisterung für Schach doch irgendwie eingeschränkt ist.
Sicher, ich verstehe die Grundregeln – das sind ja auch nicht viele. Ich kann feststellen, wann jemand einen echt schlechten Zug gemacht hat, schlimmer noch, wenn ich es selbst war. Aber ich kann nicht 3 Züge im Voraus denken. (Oder vielleicht doch? Zumindest kann ich keine Fallen bauen, die 3 Züge im Voraus sind.)
Ich kann schon mal beim Schach zugucken und es für 5 Minuten halbwegs interessant finden – aber das war’s dann auch schon. Und mir war nie so ganz bewusst warum.
Ganz schwammig ausgedrückt: es reizt mich nicht. Aber ich wusste nie warum und konnte auch keine objektiven Gründe dafür anführen.
Normalerweise denke ich nie über dieses Thema nach, letzte Woche wurde ich aber quasi dazu gezwungen:
Statt mich intuitiv zum Mittagessen in der Kantine zu irgendwelchen netten jungen Damen zu setzen, was ich sonst eigentlich eher mache, und mit ihnen sehr vernünftig über vegetarisches Essen oder sonst was zu unterhalten, setzte ich mich neben zwei Schachspieler. Und als da also mein Hirn keiner sonstigen Beschäftigung nachzugehen hatte, bemerkte ich zumindest die allerschlechtesten Züge – soweit reicht mein Verständnis ja immerhin. Vermutlich sah oder hörte man mir das auch an, weil ich nach der Partie gefragt wurde, ob ich nicht auch mal spielen wöllte. Nachdem geklärt war, dass ich seit 15 Jahren nicht gespielt hätte, mein Gegenüber dafür erst seit 2 Wochen spielte ging die Partie dementsprechend Remi aus – immerhin mit König und Springer für mich gegen König und Bauer. Vermutlich hätten wir bereits 5 Züge früher aufhören können, aber das war natürlich keinem bewusst. Angefangen hatte es echt gut, als bei mir 5 Bauern fehlten, hatte mein Gegenüber 3 Bauern und 2 Läufer verloren – dafür übersah ich bald darauf meine Königin, konnte seine dafür später sogar zweimal schlagen.
Das tragischste an der Partie war, dass neben uns noch eine junge Mitarbeiterin saß. Also das war an sich noch nicht tragisch. Tragisch war eher, dass sie meinen Nachbarn fragte, ob er nicht mit ihr Tischtennis spielen wolle, er aber meinte, er würde lieber unserem Schachspiel zusehen und das dauere ja gar nicht mehr lange. Nach der dritten vergeblichen Frage nach Tischtennis ging stand sie nach 15 Minuten vom Tisch auf und ging.
Irgendwie zwang mich das dazu, das erste mal in meinem Leben mal ernsthaft über Schach und Tischtennis nachzudenken. 🙂
Dummerweise war ich in dem Moment zu sehr mit Schach beschäftigt – ansonsten hätte ich natürlich klugerweise anbieten können:
„Hiermit gebe ich mein Schachspiel an meinen Nachbarn ab, weil ich selber viel lieber Tischtennis spielen würde.
Und zwar weil ich eigentlich gar kein großer Freund von deterministischen Spielen und überhaupt Beschäftigungen mit strengem Regelwerk bin.
Viel lieber bevorzuge ich Differenzialrechnung mit zufällig wechselnden Parameter im Raum, inklusive Quadration, zwei bis dreifache Ableitung, Extrapolation, generelle Mehrkörperdynamik etc.
Also wie schauts aus mit einer Runde Tischtennis?“
Wobei … vielleicht wäre das auch ziemlich TMI gewesen und irgendwie nicht ganz so gut überzeugend.
Und natürlich fallen mir so durchdachte und präzise Aussagen eh immer zu spät ein.
Jetzt mal bisschen aufgedröselter für alle Interessierten:
Beim Schach gibt es halt nur ungefähr 10 Regeln. Und die sind irgendwie in Stein gehauen. (Bei Uno muss man wenigstens in jeder Familie fragen, welche Regeln dort gespielt werden.)
Außerdem sind die Möglichkeiten auf so einem kleinen Brett mit diesen wenigen Steinen dann halt wirklich mathematisch exakt berechenbar. Und irgendeine davon wählt man halt. Und damit kommen wir zum Deterministischen: man wählt irgendeinen Zug, der entweder besser oder schlechter ist. Man kann Schachzüge wirklich unterteilen in gut und schlecht. Und schlechte Züge muss man dann das ganze restliche Spiel über ausbaden. (Wie meinen frühen Verlust der Königin.) Das heißt, man fühlt sich nach einem schlechten Zug auch irgendwie schlecht und doof. Also ich zumindest. Was für einen Frust kann man in so einem deterministischen Spiel aufbauen.
Weiterhin gibt es dann natürlich auch „den besten Zug“ in einer gegebenen Situation. Also den perfekten Zug. Hey! Ich versuche Perfektionismus in meinem Leben möglichst wenig Raum zu geben, weil ich merke, dass es mich vollständig meschugge macht – und dann ein Spiel spielen, in dem Perfektionismus die einzige Spielstrategie ist?
Ach ja, noch etwas: Schach hat in meinen Augen keinerlei praktische Anwendung, es ist komplett abstrakt. Also Tischtennis hat ja jetzt auch keine unmittelbare praktische Anwendung, aber zumindest kann man die Übung der Körperdynamik schon als nützlich für andere Tätigkeiten, ja generell für das Leben in einem menschlichen Körper sehen.
Dem Schachspiel andererseits fehlt es irgendwie gänzlich an solchen Effekten. (Oder nennt mir einen.) Es wird ein rein formaler logischer Denkvorgang geübt – der aber mit anderen Denkvorgängen in der Echtwelt irgendwie fast gar nichts zu tun hat. Das Spiel ist somit eigentlich komplett abstrakt. Verrückte Sache.
Das Gegenangebot Tischtennis:
Mal auf den ersten Blick gesehen bewegen sich da hauptsächlich die Spieler – und nicht nur deren Neuronen. Das frischt in einer Mittagspause natürlich ungemein den Kreislauf auf. Während andersherum ich als tendenzielle Bürokreatur den lieben langen Tag über meine Neuronen ermüde – in der Mittagspause will ich die viel lieber entspannen und nicht genau noch weiter anspannen.
Seinen Körper zu bewegen setzt voraus, dass man 205 Knochen mit über 600 Muskeln in vielleicht 40 primär wichtigen Bewegungsrichtungen irgendwie kontrolliert koordinieren muss. (Schicke Rechenleistung! Danke, liebes Gehirn, dass du das überhaupt schaffst! Geschweige denn in einer Geschwindigkeit die Tischtennis möglich macht.)
Den Körper nicht nur statisch von A nach B zu bewegen, sondern dynamisch, dabei halbwegs energieoptimiert, Verletzungsgefahr-minimiert und zielsicher – wow, schick.
Dafür müssen wir Massen im Raum gegen sowohl die Gravitation als auch gegen ihre Massenträgheit beschleunigen und wieder abbremsen. Mit Muskelkontraktion um Gelenkpunkte, das heißt, wir integrieren den Muskelinput über die Zeit um auf den Weg zu kommen. Oh, Gelenkpunkte: wir rechnen natürlich auch noch etwa 40 lokale Gelenk-Polarkoordinatensysteme in das globale Koordinatensystem um (von mir aus das einfacherweise angenommene kartesische in dem der Ball fliegt, siehe unten). Zur Unfallvermeidung müssen wir vermutlich die Maximalkräfte minimieren die an den Randgegebenheiten zwischen unserem Körper und den Festkörpern der Umgebung auftreten. (Sehr schöner Ausdruck für: „verstauch dir halt keinen Knöchel und schlag deine Hand nicht aus Versehen mit voller Wucht auf die Platte“ 🙂 Maximalkräfte ausrechnen hat vermutlich mit der Beschleunigung (also der zweiten Ableitung eurer reinen Massenbewegungskurven der einzelnen Körperteile) zu tun und natürlich dem Ruck, der dritten Ableitung. Dummerweise bewegen sich unsere Massen gemäß des Massenträgheitssatzes, also dem actio gleich reactio, erst mal dynamisch und primär auf irgendwelchen angenehmen Bogenkurven. Wenn Spieler und feste Materie zusammentreffen (halt bei jedem Schritt wo man sich den Fuß verknacksen könnte), da treten Kontinuitätsschwankungen auf. Hässlich. Da machen die Ableitungen irgendwelche Sprünge. Der Graus des differenzialrechnungsgeplagten Oberstufenschülers. (Deshalb sind ja auch Mod-Funktionen oder alles was die Quotientenregel braucht ganz widerlich – und deshalb rechnet sie ja auch kein normaler Mensch in der Freizeit aus. Aber für die beiden wüsste ich jetzt eh grad keine vernünftige Anwendung aus dem realen Festkörperleben von Menschen.) Die Kontinuitätsschwankungen werden natürlich von der Weichheit unseres Gewebes ganz nett ausgebügelt. Trotzdem muss man aufpassen, dass maximale Beschleunigungswerte nicht überschritten werden. Und natürlich deren Integrale, die maximalen Winkelauslenkungen eurer Gelenke. (Ach, ich lerne gerade, dass ihr vermutlich intuitiv Klothoiden anwendet.)
Wenn ihr euch das nächste mal einen Knöchel verstaucht, sagt einfach: „tut mir leid, da hab ich nicht schnell genug die Kontinuitätsschwankung von Geschwindigkeit, Beschleunigung und Auslenkung meiner Körpermassen in Relation zur Steifigkeit meiner Umgebung extrapoliert“. (Macht euch aber auf Nachfragen gefasst und wisst wovon ihr redet. 😉
Oder auch: „ich hab übersehen, dass Bewegungen und Begegnungen mit steiler Dirac-Funktion weh tun.“
Oder noch kürzer: „ich hab Klothoide und Dirac-Impuls verwechselt.“
Ja, das wäre doch schön kurz und knackig. 🙂
Wo wir schon beim Verletzen sind: ausrutschen dürft ihr natürlich auch nicht. Also kommt da noch eine Reibungsberechnung mit hinein. Haftreibung, abhängig vom Anpressdruck – also die Kombi aus Gravitation und das Quadrat der negativen Beschleunigung mit der euer Fuß auf den Boden aufkommt. Oder so ähnlich. Und in der Haftreibung auch noch ganz wichtig ist die Aufsetzrichtung – die aber dann wohl mit der Geschwindigkeit, wenn ich das richtig sehe.
Jetzt kommt noch eine schicke Augen-Gehirn-Muskel-Extrapolation dazu. Das Auge erfasst den Ball zu ein paar Augenblicken – nehmen wir mal statische Bilder an. Das Gehirn berechnet erst mal aus zwei Bildern die Unterschiede und daraus erst mal die Geschwindigkeit und Flugbahn des Balles in drei Dimensionen. Mit dem dritten Bild wird klar, dass sowohl Geschwindigkeit, als auch Flugbahn nicht linear sind. Die Geschwindigkeit wird mit der Luftreibung abnehmen, die Luftreibung wiederum hängt vom Quadrat der Geschwindigkeit des Balles ab. Die Flugbahn kann man mal grob als Parabel annehmen, die primär der Gravitation folgt. Dann folgt aber die Flugbahn auch noch dem Drall des Balles – wenn das Gegenüber es beherrscht, einen nennenswerten Drall zu produzieren.
Ach Moment, der Ball muss ja auf der Platte aufkommen. Also haben wir teilelastische Reflexion. Heißt das so? Vielleicht. Der Ball gibt einen Teil der Energie an die Platte ab, respektive manche Energie dissipiert sich auch in Wärme. Auf jeden Fall springt der Ball nicht so hoch wie er vorher flog. Prozentrechnen quasi. Wenn er mehrmals aufkommen sollte (weil die Spieler lieber Quatsch im Kopf haben als knallhartes Punktezählen) muss man also auch noch im Kopf haben, dass die Rückprallhöhen logarithmisch abnehmen.
Die Richtung kann sich beim Rückprall auch noch ändern – wieder diese Effet-Sache für die man ewig zum Verstehen braucht. Ach Moment, den Effet kann man natürlich extrapolieren aus der Bewegungsrichtung und dem Winkel das Schlägers des Gegenübers und einer weiteren Reibungsberechnung. Und natürlich – holla – aus der Abweichung der bisherigen Flugbahn von der reinen, luftreibungsgebremsten, Parabelflugbahn. Kinderspiel, oder?
Statt einer einfachen Differenzialgleichung zweiten oder dritten Grades (die wir mathematisch freundlicherweise halt mit Koordinatentransformation in die Ebene die sich aus Gravitationsvektor und anfänglicher Ballflugrichtung bildet vereinfachen können) bläst sich das Ganze mit nennenswertem Effet vermutlich auf eine Differenzialgleichung 6ten oder 9ten Grades auf – dann kommt plötzlich der Impulserhaltungssatz mit hinein, der natürlich wieder durch einen quadratischen Bremsterm abgeschwächt wird, dazu kommt eben die Ballrichtungsänderung über den Magnus-Effekt. (Der Flettner-Rotor nutzt den zum Beispiel – aber den kapiert ja auch niemand (mich eingeschlossen)! Das ist quasi das verblüffenderweise fliegende Schwein unter den Flugzeugen.) Der Magnus-Effekt ist genau deshalb dann besonders widerlich, weil man ihn im normalen Leben nicht in relevanten Größen bemerkt, deshalb kann man ihn nicht gut einschätzen. (Ganz ähnlich – aber ganz anders halt – die Corioliskraft, die man auch so selten spürt, dass sie einen vollkommen kalt erwischt sobald man versucht sich auf einer drehenden Platte radial zu bewegen. Aber das ist jetzt ein anderes Thema und japanische Messer hab ich auch und das gehört jetzt auch nicht hierher.) Zurück zum Thema: angeschnittene Bälle: kein Wunder, wenn mir die so oft durch die Lappen gehen.
So, das war es jetzt schon irgendwie theoretisch wenn man nur eine Seite betrachtet. Jetzt ist Tischtennis halt auch ein Sport mit lebendigem Gegner, der halt irgendwie reagiert wie es ihm gerade gefällt. Ball + 2 Spieler, ups, Dreikörpersystem, da sind wir ja schon in der Chaostheorie. 🙂 Hässlich. Also rein mathematisch stelle ich es mir zumindest hässlich vor – und habe deshalb auch gar keine Lust mir das jemals anzutun. In der Realität beim Spiel ist das natürlich gerade erst das Lustige daran. Jeder spielt einfach irgendeinen Quatsch von dem er denkt, dass es raffiniert wäre. Ach ja, oder in meinem Fall auch ganz oft: oha, ich muss den Ball erst mal treffen und, ups, er soll auch noch beim Gegner auf die Platte kommen – etwaige Raffinesse folgt mit Glück nach diesen Basics.
Oh, jetzt kommt hier noch eine zeitliche Komponente: beim Schach kann man sich für eine Reaktion schon auch mal eine Minute Zeit nehmen. Beim Tischtennis dauert eine Reaktion halt so lange, wie der Ball vom Gegner zu euch braucht. Also durchdenkt euer Gehirn all diesen unsäglich komplizierten Kram da oben in etwa einer Sekunde!
(Ob ihr überhaupt keine Ahnung von der Mathematik von Differenzialgleichungen habt spielt dabei keine Rolle! Euer Gehirn löst sie trotzdem! Ihr habt ein intuitives Verständnis dafür wo der Ball hinfliegen wird und wie ihr euren Körper bewegen müsst um ihn zu erreichen.)
Ist das irgendwie sweet? Ich glaube schon.
Jetzt noch die deterministische Komponente: beim Schach muss ich einzelne Fehler auch noch 20 Minuten später ertragen. Beim Tischtennis ist, bedingt durch die wahnsinnig vielen Möglichkeiten und der weitgehend unvorhersagbaren Reaktion des Gegenübers, eigentlich jeder Ballwechsel wieder neu. Bietet neue Chancen. Ich muss gerade nicht meine Fehler von vor 20 Minuten ausbaden. Allein die Fehler der letzten 10 Sekunden sind eigentlich schon egal. Man spielt im Hier und Jetzt. Ist auch im Hier und Jetzt präsent – und nicht hauptsächlich in der Vergangenheit und in der Zukunft. (Heißt es das nicht, dass man um die psychische Gesundheit zu fördern nicht in Vergangenheit und Zukunft abhängen soll, sondern im Augenblick? Dann würde also Tischtennis gegenüber Schach das auch noch unterstützen, dass man eine gesündere psychologische Grundhaltung einnimmt. 😉
Wenn wir jetzt also rein formal Schach versus Tischtennis anschauen, dann sehen wir also irgendwie: Schach ist eher geistig, tendenziell ein bisschen starr mit seinen festen Regeln und seinem deterministischen Spielverlauf, der auf den alleinigen Sieg einer Seite zustrebt. Tischtennis besteht hauptsächlich aus dynamischer Bewegung, Reaktion auf sich ständig verändernde Situationen, mathematisch eigentlich super komplexer Auge-Gehirn-Muskel-Interaktion der oftmals weniger das Ziel eines Sieges als vielmehr auf den Spaß an der Tätigkeit an sich hat.
Abschließend jetzt noch eine Beobachtung der Spieler (zumindest auf dem Spielniveau einer Kantine): Schachspieler schauen nicht so spielerisch locker und von Freude erfüllt aus. Wenn man Glück hat schauen sie zumindest hochkonzentriert statt verkniffen. Hey, hallo, gibts Schachspieler auch mit Lächeln? Im deterministischen, zielgerichteten Schach freut man sich auch nie über gute Züge der Gegenspieler. Schach ist ein „Spiel“ mit ernstem Charakter.
Die Tischtennisspieler im Gegenzug lachen auch mal, sie können sich sogar über gute Aktionen ihrer Gegenspieler freuen und staunen, obwohl diese natürlich für einen selber schlecht sind. Tischtennis ist ein Spiel, das erfreulicherweise tatsächlich einen spielerischen und fröhlichen Charakter hat.
Summa summarum: die nächsten Male werde ich einer Partie Schach eine Runde Tischtennis vorziehen! 🙂